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Klaus Regling Die Zeit interview (German version)

Interviews
ESM

Interview mit Klaus Regling, ESM Geschäftsführender Direktor  
Die Zeit
Erscheinungstag: 5. Oktober 2022 (ausgeführt: 27. September 2022)
Interviewer: Mark Schieritz
Originalsprache: Deutsch


Die Zeit: Herr Regling, jetzt gibt die Bundesregierung wieder viele Milliarden aus, um die Wirtschaft zu retten. Sie sind Rettungsexperte: Kann das funktionieren? 

Klaus Regling: Es ist wichtig zu verstehen, mit welcher Art von Krise wir es zu tun haben. Der Anstieg der Energiepreise ist der größte Angebotsschock seit dem Zweiten Weltkrieg. Die EU-Länder werden voraussichtlich in diesem Jahr rund 500 Milliarden Euro mehr an die Energie exportierenden Länder transferieren als vor zwei Jahren. Das entspricht etwa der jährlichen Wirtschaftsleistung Belgiens. Dieses Geld ist weg. 

Geld kann man drucken.

Aber nicht die materiellen Ressourcen dahinter. Wenn mehr Geld da ist, ist nicht automatisch mehr Gas da. Im Zweifel bezahlen wir nur mehr für die gleiche Menge an Gas. Der Staat kann die Verluste nicht komplett ausgleichen, er kann aber dafür sorgen, dass die Lasten gerecht verteilt werden. 

Wie? 

Indem er gezielt Instrumente einsetzt, um den Bedürftigen zu helfen und die Substanz der Wirtschaft zu erhalten. Da geht es um Haushalte mit niedrigem Einkommen oder um den Bäcker um die Ecke, aber auch um den Pharmariesen, der ansonsten vielleicht energieintensive Produktlinien nach Nordamerika verlagert. 

Man kann also nicht jeden retten? 

Nein. Gießkanne geht nicht. Das gilt für alle europäischen Länder. 

Wenn ich – sagen wir – 2000 Euro im Monat verdiene, dann bekomme ich Hilfe, bei 6000 Euro nicht mehr. Ist das gerecht?  

Wo genau die Einkommensgrenze liegt und welche Unternehmen gefördert werden sollen, ist eine schwierige politische Entscheidung. Da muss man auch Kompromisse machen. Das ändert aber nichts an den ökonomischen Realitäten: Energie ist knapp, und die Preissteigerungen gehen mit einem Verlust an Wohlstand einher. 

Halten Sie die Gaspreisbremse der Regierung für einen guten Kompromiss? 

Eine Bewertung ist erst möglich, wenn die Einzelheiten der Umsetzung festgelegt worden sind. Diese Zeit sollte man auch nutzen, um sich mit den europäischen Partnern abzustimmen.  

Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Rettung?  

Zumindest an die dramatischste: Die war im Frühjahr 1983. In Frankreich wurde erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg ein sozialistischer Präsident gewählt, Francois Mitterand. Der hat Dinge getan, die man sich heute kaum vorstellen kann, zum Beispiel Banken und Konzerne verstaatlicht. Daraufhin geriet die französische Währung unter Druck. Gerhard Stoltenberg war Bundesfinanzminister, er traf in Brüssel an einem Wochenende mit seinem französischen Kollegen Jacques Delors zusammen. 

Es wird häufig an Wochenenden gerettet, oder? 

Weil da die Finanzmärkte geschlossen haben. Stoltenberg, Delors und die anderen Minister wurden sich nicht einig. Mitterand hat ihn dann nach Paris zurückberufen. Er hatte zwei Empfehlungen auf seinem Schreibtisch: Die eine lautete: Reformen umsetzen und die Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Die andere: Das europäische Währungssystem verlassen, Zölle erheben gegenüber allen Handelspartnern. Mitterand hat sich für die erste Empfehlung entschieden. Sonst gäbe es den Euro heute wahrscheinlich nicht. 

Was war Ihre Rolle dabei? 

Ich war Referent im Bundesfinanzministerium. Ich habe dafür gesorgt, dass Gerhard Stoltenberg auch nachts um drei noch Brötchen bekommen hat. 
 
Einem breiteren Publikum sind Sie bekannt geworden, als um das Jahr 2010 herum Griechenland gerettet werden musste. Wie konnte es so weit kommen?

Nach der Einführung des Euro waren die Einkommen in Griechenland deutlich stärker gestiegen als in den anderen Mitgliedsstaaten des Euros und auch stärker, als es durch die Entwicklung der nationalen Produktivität gedeckt gewesen wäre. Ich habe damals für die Europäische Kommission gearbeitet, wir haben das Problem immer wieder diskutiert.  

Aber es ist nichts passiert?

Griechenland musste sich durch ausländische Kapitalzuflüsse finanzieren. Eigentlich hätten die Investoren angesichts der sich verschlechternden Wettbewerbsfähigkeit dafür höhere Zinsen verlangen müssen, dann wäre der Druck auf Griechenland zu Anpassungen da gewesen. Sie haben dem Land aber weiter extrem günstige Kredite zur Verfügung gestellt. Aber Ende 2009 gab es Wahlen, die neue Regierung wollte noch mehr Geld ausgeben. Da sind die Zinsen schlagartig gestiegen, der Kapitalzustrom drohte zu versiegen. 

Dann haben Sie eingegriffen.

Erst einmal mussten dafür die Voraussetzungen geschaffen werden. Auf globaler Ebene gibt es für solche Fälle den Internationalen Währungsfonds. In der Währungsunion hatten wir so etwas nicht. Mit der Gründung des Euro-Rettungsschirmes ESM wurde eine Lücke in der institutionellen Architektur der Währungsunion geschlossen.  

Inwiefern? 

Es gibt jetzt eine Institution, die im Krisenfall Hilfskredite an Staaten vergeben kann. Diese sind, wenn nötig, an ein makroökonomischen Anpassungsprogramm mit wirtschaftspolitischen Auflagen gekoppelt, damit das Land wieder auf Kurs kommt.  
 
Die griechische Regierung hat argumentiert: Die Auflagen sind zu streng. 

Im Nachhinein kann man sicher über einzelne Maßnahmen streiten. Wir hätten zum Beispiel die privaten Kapitalgeber früher an den Kosten der Krise beteiligen sollen. Klar war aber immer: Die nötige Anpassung ist ohne Schmerzen nicht machbar. 

Retten muss weh tun? 

Nicht in dem Sinne, dass man einem Land als Strafe Leid zufügen muss. Es gab im Jahrzehnt vor der Krise Fehlentwicklungen, die korrigiert werden mussten. Griechenland war nicht so reich, wie es den Anschein hatte. Es war unumgänglich, dass die Bevölkerung einen Teil der übermäßigen Einkommenszuwächse zurückgibt. Es ist mir aber auch klar, dass so etwas politisch nicht einfach zu vermitteln ist und dass solche Anpassungen für die Bevölkerung sehr schmerzhaft sind.

Die Retter blicken anders auf die Rettung als die Geretteten? 

Die Verhandlungen können in solchen Fällen sehr intensiv sein. Es geht um ein ganzes Land. Das ist eine große Verantwortung. Aber wenn die Rettung gelingt, dann profitiert davon  die Wirtschaft, das heißt letztlich die Menschen.

Würden Sie sagen, dass Griechenland gerettet ist? 

Eindeutig. Es war das oberste Ziel, alle Länder im Euroraum zu halten. Das ist gelungen. In Griechenland selbst hat der Anpassungsprozess deutlich länger gedauert als in anderen Krisenstaaten. Aber heute steht das Land viel besser da als damals. 

Weshalb muss eigentlich immer gerettet werden? 

Weil die Welt nicht perfekt ist. Wenn alle immer alles richtig machten, gäbe es weniger Krisen. Aber die Erfahrung zeigt, dass es so eben nicht ist. 

Warum?

Das hat vielleicht mit der menschlichen Natur zu tun. Wenn alles gut läuft, geht man großzügiger mit dem Geld um. Das gilt für Politiker, Unternehmer, Tarifparteien und Banker. Politiker sind in aller Regel nur für vier oder fünf Jahre gewählt, wenn es möglich ist, nutzen sie deshalb manchmal Verschuldungsspielräume aus, die sie langfristig nicht hätten ausnutzen sollen. Das beobachten wir überall auf der Welt. 

Wäre es nicht besser einzugreifen, bevor es zu spät ist?

Genau deshalb gibt es im europäischen Kontext Vorschriften für die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, deren Einhaltung unter anderem von der Europäischen Kommission überwacht werden. Da ist in den vergangenen zehn Jahren, als Reaktion auf die Eurokrise, einiges zur Verstärkung geschehen. Aber auch wenn wir die Überwachung noch weiter ausbauen, was ich für sinnvoll halte: Sie wird nie perfekt sein. 

Wir retten also, weil Politiker immer wieder versagen?

Nicht nur die Politiker. Wenn Investoren im Fall Griechenlands früher höhere Zinsen gefordert hätten, wäre das Land früher auf einen nachhaltigen finanzpolitischen Kurs gezwungen worden. Diese disziplinierende Kraft hat es aber nicht gegeben. Die Ursache vieler Finanzkrisen ist eine Kombination aus Politikversagen und Marktversagen. 
 
Man könnte sich auch auf den Standpunkt stellen: Jedes Land muss für seine Fehler geradestehen. 

Dann muss man aber auch die Folgen bedenken. Wäre Griechenland aus dem Euro gedrängt worden, stünde Europa heute politisch und ökonomisch schlechter da. 

Sie sagen: Rettung ist kein Ausdruck von Solidarität, sondern von Eigeninteresse der Rettenden?

Beides. Die Hilfskredite für Griechenland – mehr als 200 Milliarden Euro – waren h ein Ausdruck von Solidarität. Die Griechen werden davon noch viele Jahrzehnte profitieren, weil die Zinsen niedrig sind und die Laufzeit der Darlehen sehr lang

In Deutschland war die Griechenlandrettung trotzdem umstritten.

Gerade für Deutschland und seine Exportindustrie ist es wichtig, dass der europäische Binnenmarkt funktioniert. Auch der neu gegründeten Bundesrepublik wurde übrigens nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Londoner Schuldenabkommens ein Großteil seiner Schulden erlassen. Wir sind also nicht nur Retter, wir wurden auch gerettet. 

Die Kritiker sagen: Gäbe es den Euro nicht, müsste man auch nicht dauernd retten.  

Das ist ein Fehlschluss. Es gab auch vor der Einführung des Euro schwere Krisen, nicht nur in Frankreich. Ich weiß noch sehr genau, wie 1992 die italienische Währung plötzlich gegenüber der Deutschen Mark um 20 Prozent an Wert verlor. Damit konnte VW keine Autos mehr in Italien verkaufen. Und auch die bayerischen Milchbauern, was den Finanzminister…

… Theo Waigel von der CSU…

… besonders bekümmert hat damals, hatten keine Chance gegen die Südtiroler Milchbauern. Wir haben in Europa einen gemeinsamen Markt mit wechselseitigen Abhängigkeiten, deshalb können wir die Probleme unserer Nachbarn nicht ignorieren.  

Sie haben die enormen Summen angesprochen, die bei einer Rettung häufig fließen. Werden Regierungen da nicht unvorsichtig? Sie wissen, dass sie gerettet werden, wenn etwas schief gehen sollte. 

Dagegen spricht, dass die Gelder an Auflagen geknüpft sind. Niemand unterwirft sich gerne diesen Programmen. Sie sind aber nötig. Wir können einen durch jahrelange Fehlentwicklungen geschaffenen Anpassungsbedarf nicht einfach wegzaubern. Wir können ihn nur zeitlich strecken. 

Retten bedeutet: Zeit kaufen? 

In vielen Fällen ist das so. Nehmen Sie wieder das Beispiel Griechenland. Die ausländischen Kapitalgeber haben sich zurückgezogen, ohne Unterstützung hätte die Regierung schlagartig die Staatsausgaben auf die Höhe der Staatseinnahmen zusammenstreichen müssen. Das hätte das Land ins Chaos gestürzt. Durch die Hilfsprogramme konnten wieder positive wirtschaftliche Perspektiven geschaffen werden

Die Coronahilfen der EU wurden aber ohne Auflagen vergeben.  

Die Coronakrise war auch nicht das Ergebnis wirtschaftspolitischer Fehlentscheidungen. Das Virus hat Länder mit hohen Schulden genauso getroffen wie Länder mit niedrigen Schulden. Deshalb war es richtig zu sagen: Wir knüpfen die Hilfen nicht an strenge Reformprogramme – und wir helfen vor allem den Ländern, die besonders unter der Pandemie leiden. Krise ist nicht gleich Krise und das muss bei der Rettung berücksichtigt werden. 

Auch Italien erhält Mittel aus dem Coronafonds. Jetzt bekommen die Italiener wahrscheinlich bald eine Regierungschefin, die in ihrer Jugend den Diktator Benito Mussolini verehrt hat. Dürfen wir die noch retten? 

Man muss die demokratischen Prozesse respektieren. Wir sollten der neuen italienischen Regierung etwas Zeit geben und sie dann an ihren Entscheidungen messen. Der Wahlkampf war jedenfalls nicht anti-europäisch.

Kann eine Rettung den Retter überfordern? 

Man kann es auch übertreiben. Ich glaube – und das sehen viele Volkswirte so – dass die Unterstützungsmaßnahmen während der Coronakrise in den USA zu großzügig waren. Wir sehen in den Statistiken, dass viele Amerikaner dank der staatlichen Hilfsleistungen mehr Einkommen hatten als vor der Pandemie. Das hat zu zusätzlicher Nachfrage geführt und die Inflation ist gestiegen. Die Maßnahmen in der EU wurden anders ausgestaltet und verhelfen den Ländern langfristig zu mehr Wachstum. 

Gefährdet die zusätzliche Schuldenaufnahme die finanzielle Stabilität des deutschen Staates?  

Sicherlich nicht, Deutschland kann sich das leisten. 

Welche Rettung war Ihre komplizierteste? 

Für mich persönlich war die Arbeit in Griechenland die intensivste, weil es sich so lange hingezogen hat und weil ein Austritt des Landes aus der Währungsunion ein echtes Risiko war – auch wenn es dann anders gekommen ist. 

Hat das alles auch Spaß gemacht?  

Das Wort Spaß ist irgendwie nicht angemessen. Aber es war interessant.  
 

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